Hedwig - Die Suche nach dem wahren Platz im Leben

Am Samstag, den 21. Oktober 2017, habe ich "Hedwig and the angry inch" auf der langen Suche nach dem wahren Platz im Leben in der Brotfabrik in Frankfurt besucht. Ein Stück, das auf den ersten Blick verrückter nicht sein könnte, und den Zuschauern nach genauerem Hinsehen mit großen Emotionen, einer unendlichen Tragik und einer Menge an Gesellschaftskritik gegenübertritt.
Als ich gestern das Theater verlassen habe, musste ich noch lange über das Erlebte nachdenken und war zunächst etwas sprachlos, denn die Show gibt dem einzelnen Zuschauer so viel Input, den man aus ganz verschiedenen Augenwinkeln betrachten kann und den man erst einmal in Ruhe auf sich wirken lassen sollte. Klar ist, diese Produktion ist mit keinem anderen Musical zu vergleichen. Das Stück einordnen zu wollen wäre vermessen, denn es bildet schon regelrecht ein ganz eigenes Genre mit völlig neuen Gesichtspunkten... eine Mischung aus Rockmusical, Cabaret und Theater. Ganz große Komik und noch größere Dramatik!

(c) Agnes Wiener / Niklas Wagner

In diesem Rock - Musical erzählt Hedwig auf einem ihrer Konzerte dem Publikum ihre tief - tragische Geschichte. Zur Zeit der Teilung Deutschlands lebt Hansel Schmidt mit seiner Mutter in Ostberlin. Dort verliebt er sich eines Tages in den amerikanischen GI Luther und schnell wird klar, die Beiden werden heiraten und gemeinsam die DDR verlassen, doch dieser Schritt hat fatale Folgen, denn Hansel muss einen "kleinen Teil" von sich zurücklassen, um den Traum von der großen Liebe wahr werden zu lassen: Er muss sich in eine Frau (Hedwig) verwandeln. Doch die Geschlechtsumwandlung verläuft nicht wie geplant und so bleibt Hedwig schließlich - nach einem nur halb geglückten Eingriff - ein "zwei Zentimeter langer Hautlappen" - der "angry inch". Die Liebe zu Luther endet schnell und auch die neue Liebe zu "Tommy Gnosis", der mit Hilfe Hedwigs ein gefeierter Rock - Star wird, scheitert aufgrund Hedwigs fehlender Geschlechtszugehörigkeit. Sie muss fortan als ein "halber" Mensch zwischen zwei Seiten leben und ihr "angry inch" - der ein Spiegelbild ihres eigenen Daseins ist - erinnert sie immer daran, dass sie wohl nie die verzweifelt ersehnte Vollkommenheit erlangen wird. Mit ihrem Ehemann "Yitzhak", der ebenso wenig seinen wahren Platz im Leben gefunden hat wie Hedwig selbst, tritt Hedwig den eigens für sie bestimmten Weg an: Die Reise mit ihrer Band und die damit verbundene Suche nach ihrer eigentlichen Identität, die in einem riesigen Gefühlschaos endet.

(c) Agnes Wiener / Niklas Wagner

In dem Stück gibt es lediglich zwei Rollen, die dem Zuschauer während der Vorstellung tatsächlich begegnen: Hedwig und ihr Ehemann Yitzhak.

Die Chanteuse Hedwig wurde an diesem Abend von Michael Kargus verkörpert, der aus der Rolle wirklich das Maximum an Kreativität, Witz, aber auch an Gefühlen schöpfte. Über zwei Stunden hinweg brillierte er mit einer satten, energiegeladenen, rockigen und zugleich bewegenden Stimme. Mit seinem facettenreichen Schauspiel entführte er das Publikum in seine ambivalente Welt. Da Hedwig den gesamten Abend auf der Bühne steht und zugleich Erzähler als auch Hauptakteur ist, muss der jeweilige Darsteller das Publikum alleine mit seinem Auftreten schon völlig focussieren, um keinen Zuschauer während der Geschichte zu verlieren, und genau das hat Michael geschafft: Er hat mit seiner unglaublichen Bühnenpräsenz den Saal für sich eingenommen und unglaublich viel Variabilität in seinem Schauspiel bewiesen. Von der selbstsicheren, überheblichen Drag - Queen bis hin zu einem verzweifelten Wesen im Sturm der Emotionen war Michael Kargus in jeder erdenklichen Situation authentisch zu erleben.

(c) Agnes Wiener / Niklas Wagner
(Cover Lukas Witzel)

Yitzhak, der während der Show ein recht stiller und zunächst passiver Begleiter Hedwigs ist, wurde von Kathrin Hanak gespielt. Trotz der eher zurückgezogenen Figur, die durch unterdrückte Triebe auch nur ein halbes Leben auf der Suche nach der eigentlichen Identität zu führen scheint, war Kathrin zu jeder Zeit sehr präsent auf der Bühne und bildete ein starkes Gerüst für die einzelnen Auftritte Hedwigs, die sie mit gekonnten und prägnanten Verbalattacken latent aggressiv unterstrich. Auch sie konnte sowohl mit einem absolut authentischen Schauspiel als auch mit einer von unterschiedlichen Farben geprägten Stimme brillieren... Ob Rock, Punk oder sanfte Balladen, die Sängerin begeisterte mit einer stimmlichen Sicherheit. Aufgrund des Geschlechtertauschs in diesem Stück verkörperte die Schauspielerin in der Produktion eine männliche Rolle, wobei Kathrin eine solche Selbstsicherheit und eine vermeintlich innere Ruhe an den Tag legte, dass das Publikum tatsächlich mehrfach überlegen musste, um sich darüber Klarheit zu verschaffen, dass hier eigentlich eine Frau auf der Bühne steht.

Die Charaktere und deren Gefühlswelten sind sehr ausgeklügelt und beeindrucken mit ihren ganz persönlichen Geschichten. Auch, wenn es erst nach genauerem Hinsehen erkennbar ist, kann sich wohl jeder Mensch in irgendeiner Form mit dem Inneren der Figuren identifizieren, denn ein wenig Hedwig und innere Zerrissenheit stecken in jedem von uns. 

Die Band gibt während der Vorstellung 120 Minuten Vollgas und bringt das Theater mit familiär intimer Atmosphäre ordentlich zum Brodeln!

(c) Agnes Wiener / Niklas Wagner

Das Stück glänzt nicht mit einem aufwendigen Bühnenbild, großen Special - Effects oder schillernden Kostümen, nein, das Spartenmusical ist letztlich einzig und allein auf Hedwig und ihre Geschichte reduziert. Im Mittelpunkt der Handlung stehen die Fragen: Wer bin ich eigentlich? Wo gehöre ich hin? Wo ist mein individueller Platz im Leben?

Die Story wird auf eine sehr direkte Art erzählt, sodass der Zuschauer sich auf einen speziellen sarkastischen Humor einlassen muss. Man ist als Zuschauer gefordert, sich wirklich die Zeit zu nehmen und das Stück in all seiner Vielfalt kennenzulernen und die Grenzen auszuloten. Die Verpackung erscheint zunächst ziemlich komödiantisch, doch der Inhalt ist im Grunde sehr dramatisch und tiefgründig.

Meiner Meinung nach ist dieses Musical definitv polarisierend, es wird sowohl seine Liebhaber als auch seine Kritiker finden und doch hat die Inszenierung es absolut vedient, auf deutschen Bühnen präsentiert zu werden. "Hedwig and the angry inch" ist ein einmaliges Spektakel, zu dem sich jeder Besucher seine ganz persönliche Meinung bilden sollte. Mich jedenfalls hat die Show auf eine ganz eigene Art begeistert, die ich nur schwer in Worte fassen kann. Je mehr man sich mit allen Aspekten dieser Inszenierung beschäftigt, desto mehr rührt die Geschichte und deren Umsetzung ans Herz! Seht euch die Aufführung in Frankfurt an, denn diese zwei Stunden werden für immer unvergessen bleiben!
(c) Agnes Wiener / Niklas Wagner

(c) Agnes Wiener / Niklas Wagner

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Große Emotionen im Sherwood Forest - Mit Robin Hood kommt eine neue Zeit des Musiktheaters

Ein eindrucksvoller Ball bis(s) zur Morgendämmerung - Zu Gast in der Stuttgarter Gruft

Theater kann die Welt verändern - "Der Club der toten Dichter", ein eindringliches Meisterwerk, das die Sprache des Herzens spricht