"American Idiot" - oder die Reise zur inneren Freiheit

Am Sonntag, den 28. Januar 2018, durfte ich mit "Johnny", "Tunny" und "Will" eine kleine Reise durch ihr Leben machen und dabei eindrucksvoll erfahren, wie nah Freud und Leid doch beieinander liegen können. Das Musical "American Idiot", welches aktuell auf der Bühne der "Batschkapp" in Frankfurt zu bestaunen ist, erzählt in neunzig Minuten eine rockig verpackte Geschichte voller Emotionen, Dramatik und Kritk an der Gesellschaft mit all ihrer Enge und all ihren Zwängen, wobei die Zuschauer mit der harten Realität des Lebens konfrontiert werden. Das Publikum wird hautnah Zeuge, wie Jugendliche sich auf der Suche nach ihrem wahren Ich immer mehr von ihrem alltäglichen Leben entfernen, aus den gesellschaftlichen Zwängen ausbrechen und plötzlich eine ganz neue Seite des Lebens kennenlernen, welche jedoch nur vermeintlich Leichtigkeit und Glück verspricht und sich mit der Zeit als wahre Schattenseite entpuppt. Der gewünschte Segen wird auf einmal zum unaufhaltsamen Fluch...


"Johnny" und seine Freunde "Will" und "Tunny" fühlen sich vom alltäglichen Einerlei in ihrem kleinen Heimatort eingeengt und sehnen sich nach Freiheit und Veränderung im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Während "Will" aus Rücksichtnahme auf seine schwangere Freundin als Einziger nicht seinen Wünschen folgen kann und Isolation sowie Trostlosigkeit immer mehr von ihm Besitz ergreifen, beginnt "Johnny" einen Neuanfang in einer Großstadt an der Seite seiner geliebten Zufallsbekanntschaft "Whatsername" und erlebt infolge regelmäßigen Drogenkonsums einen Glücksrausch nach dem anderen. "Tunny" hingegen scheint seine wahre Berufung durch den Eintritt in die Armee gefunden zu haben. Das Glück für die beiden "Revoluzzer" scheint perfekt zu sein. Doch schon bald wendet sich das vermeintliche (Glücksklee-)Blatt. Die Drogen, die eigentlich den Weg in eine glänzende Zukunft zu ebnen schienen, verändern plötzlich "Johnnys" Leben - jedoch nicht im gewünschten Sinne... Auch "Tunnys" Traumblase scheint zu zerplatzen, als er mit einer posttraumatischen Belastungsstörung aus dem Kriegsgebiet zurückkehrt. Die Drei gelangen, nach den zunächst augenscheinlich erfahrenen Höhepunkten ihres Lebens, am vorläufigen Tiefpunkt ihres jungen Daseins an und treiben zunehmend an den Rand der Gesellschaft. Die einzige Möglichkeit, die ihnen bleibt, um die Strömung des Unglücks aufzuhalten, ist ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und zu erkennen, was wirlich im Leben zählt...


Das Musical "American Idiot" glänzt nicht nur mit sensationellen Rock - Songs und fantastischen Darstellern, sondern auch mit einer nie dagewesenen Extravaganz an Eitelkeiten im positiven Sinne. Eine Mischung aus Musical, Show und Konzert bildet den Rahmen für ein unvergleichliches Erlebnis. Im Gegensatz zu vielen anderen Produktionen der Musicalwelt im Sinne des Zaubers aus Tausend-und-einer-Nacht sprüht diese Vorstellung nur so vor schonungsloser Ehrlichkeit und gesellschaftlicher Kritik. Die gewählte konfrontative Art der Darstellung versucht den Handlungsstrang in keiner Weise zu beschönigen, sondern spiegelt ca. neunzig Minuten lang die harte Realität der konventionellen und zugleich konservativen amerikanischen Lebensweise wider. Auffällig bei diesem Musical ist, dass die Darstellung reichlich Raum zur Interpretation bietet. Die Geschichte wird vor allem durch Songs und die Choreografie und weniger durch Dialoge selbst vorangetrieben, sodass der Zuschauer gefordert ist, dem Geschehen auf der Bühne in jeder Sekunde aufmerksam zu folgen und gedankliche Eigenleistung beizusteuern :-)

Doch was wäre eine einzigartige Show ohne Darsteller, die das Publikum in die Geschichte eintauchen lassen...?!


Phillip Büttner steht aktuell als "Johnny" auf der Frankfurter Bühne und begeistert rundum von der ersten bis zur letzten Minute. Mit einer sensationellen, facettenreichen Stimme singt er sich in die Gefühls-, aber auch in die Gedankenwelt der Zuschauer und rockt buchstäblich die Batschkapp. Doch auch dank seines brillianten Schauspieltalents gelingt es Phillip, die Zuschauer mit auf seine ganz persönliche Reise zu nehmen und gemeinsam mit ihnen eine zunehmend rasantere Achterbahnfahrt der Emotionen zu durchleben und den Wandel sowie den inneren Zwiespalt  der Figur authentisch auf die Bühne zu bringen. 

"Will" wird in dieser Inszenierung von Dennis Hupka verkörpert, der konstant die Gefühlswelt der Rolle in den Mittelpunkt stellt und das tiefe Leid und die innere Einsamkeit der Figur perfekt transportien kann. Er lässt den jugendlichen Rebell nicht nur völlig isoliert und unverstanden, sondern auch rundum verzweifelt und innerlich zerbrochen wirken.

Sebastian Smulders nimmt die große Herausforderung der Rolle des traumatisierten "Tunnys" an und meistert diese mit unglaublicher Souveränität. Der Zuschauer nimmt dem Schauspieler jedes einzelne seiner Worte, jede Reaktion und jeden Gefühlsausbruch sofort ab und lässt sich von der tiefen Authentizität, die in Sebastians Schauspiel steckt, begeistern.


Robert Lankester vereint in seinem Charakter "St. Jimmy" sowohl Engel als auch Teufel. Mit der Verführung "Johnnys" zum Drogenkonsum scheint er ihm zunächst seinen Lebenstraum nach unbeschwerter Leichtigkeit und Lebenslust zu erfüllen, doch bei genauerer Betrachtung muss auch "Johnny" feststellen, dass sich sein Traum als Alptraum entpuppt. Der Darsteller arbeitet die verschiedenen Facetten der Figur in seinem Schauspiel gekonnt aus und betont dabei die Ambivalenz der Verführung. Absolut schonungslos zeigt er dem Publikum, dass die Figur des "St. Jimmy" das Schicksal des abhängigen Opfers in seiner Hand hält.

Lisa Antoni begeistert in der Rolle der "Whatsername" als "Johnnys" Geliebte und kann dabei eine ganz ungewohnte und nicht minder umwerfende und charmante Seite ihrer umfassenden Schuspielkunst präsentieren. Energiegeladen rockt sie die Bretter, die die Welt bedeuten, und lässt dabei ihren Gefühlen freien Lauf. Von der geheimnisvollen schönen Fremden bis zur lasziven Unbändigen und schließlich enttäuscht zurückgelassenen Zornigen lässt die Darstellerin die Figur der "Namenlosen "in den unterschiedlichsten Lichtern erstrahlen und durchlebt so einen ehrlichen Wandel der Figur, der ebenfalls verdeutlicht, dass die Oberflächlichkeit der Beziehungen zwar flüchtige körperliche Nähe, aber nicht ohne weiteres dauerhafte wahre Liebe erlaubt.


Die "Abgefahr'ne Frau", die "Tunny" in seinen schwersten Momenten zur Seite steht, wird aktuell von Lena Weiss gespielt, die mit einer atemberaubenden Stimme begeistern kann. Energiegeladen und stimmgewaltig füllt sie ihre Gesangsparts aus und unterstreicht somit die Stärke und Präsenz ihrer Rolle. Trotz dieser Energie lässt Lena den nachdenklichen Kern des Charakters nie aus dem Auge und hebt ebenso die fürsorglichen Momente ihrer Weiblichkeit hervor. 

Laura Friedrich Tejero verkörpert "Wills" schwangere Freundin "Heather", die ihrem Freund mit unbändiger und zugleich fordernder Liebe entgegentritt und trotz allem Verständnis und allen Vertrauens von ihm aus Überforderung enttäuscht wird. Auch Laura glänzt mit einem sehr glaubwürdigen Schauspiel, sodass der Zuschauer sich von ihrem ersten Auftritt an sofort mit der Figur identifizieren kann und gemeinsam mit ihr Ängste, Verzweiflung und Unsicherheit durchlebt.

Claudio Gottschalk - Schmitt, Yvonne Braschke und Paulina Plucinski runden die Show mit stimmgewaltigen Auftritten ab und können sowohl ein riesiges gesangliches als auch ein beeindruckendes schauspielerisches Talent vorweisen. 
Jeder einzelne Darsteller holt das Maximum aus seiner Rolle heraus und präsentiert sich somit als absolute Idealbesetzung.


Das Musical basiert auf dem Konzeptalbum "American Idiot" von "Green Day", das ohnehin durch rockige Ohrwürmer besticht. All die aus dem Album bekannten Songs führen auch wie ein roter Faden durch die Show und verleihen der Produktion die einzigartige Note von eingängigem Rock gepaart mit einer mitunter schwer verdaulichen Gesellschaftskritik an Ja- Sagern sowie aber auch an Quer- Denkern.
Gespielt wird die Musik in der Batschkapp von einer sechsköpfigen Band, die besser nicht sein könnte. Während der gesamten Vorstellung gibt sie Vollgas und animiert das Publikum zum "Mitrocken".

Auf ein üppiges Bühnenbild wird bei dieser Inszenierung bewusst verzichtet. Lediglich Stühle und eine großartig genutzte Spiegelwand lenken den Fokus auf die Geschichte und die einzelnen Charaktere, denn vielmehr als nach schrillen Kostümen und einem bunten Bühnenbild verlangt dieses Stück nach Ehrlichkeit und echten Gefühlen.


"American Idiot" ist eine Show der Extraklasse, die dem Zuschauer die Möglichkeit gewährt, auf eine ganz individuelle Art den Problemen der Gesellschaft zu begegnen und sich mit ihnen zu konfrontieren. Zum besseren Verständnis der Geschichte wurden die Liedtexte ins Deutsche übersetzt. Dieser Prozess ist entgegen einiger Befürchtungen wahnsinnig gut gelungen. Ob mit englischen oder mit deutschen Texten, die Lieder bleiben einfach im Ohr, nicht nur bei "Rocker - Seelen".

Diese Musical - Sensation verspricht nicht nur großen Rock, sondern auch ehrliche Emotionen, die mitten ins Herz treffen. Selten zuvor hatten Zuschauer in einem Musical die Chance, so unterhalten und zugleich zum Nachdenken angeregt zu werden. Enthusiastische Darsteller geben gut anderthalb Stunden lang Vollgas und ermöglichen dem Publikum eine Auseinandersetzung mit der Ambivalenz vieler gesellschaftlicher Attitüden, die im alltäglichen Leben oft vertuscht oder beschönigt werden und eine gesunde Entfaltung der Entwicklung junger Menschen mitunter be- oder verhindern.
Rockige & unterhaltsame Verpackung - tieftragischer Inhalt und die Frage nach dem Sinn des Lebens -  all das ist "American Idiot"!

Fotos (c) Agnes Wiener / Niklas Wagner 

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Große Emotionen im Sherwood Forest - Mit Robin Hood kommt eine neue Zeit des Musiktheaters

Wenn die Sehnsucht tanzen geht - Schaurig-schöne Ästhetik und düstere Fulminanz in Hamburgs Gruft

Theater kann die Welt verändern - "Der Club der toten Dichter", ein eindringliches Meisterwerk, das die Sprache des Herzens spricht